Geschichte Nr. 7:


ARNOLD SCHÖNBERG & HANS WINTERBERG
PETER KREITMEIR & RANDY SCHOENBERG

Peter und Randy Schoenberg
Randy Schoenberg besuchte Peter
in Murnau im Sommer 2018


Im Sommer 1914 war der berühmte Komponist Arnold Schönberg zu Besuch bei Wassily Kandinsky und Gabriele Münter in Murnau, meiner Heimatstadt. Er war ein österreichisch-amerikanischer
Komponist, der aus einer Wiener jüdischen Familie stammte. Vom 4. Juli bis 9. August verweilte Schönberg bei dem Vermieter Steib (Quelle: Marktarchiv) in der Seidlstraße 6 (heute Ostermannweg 2). In dieser Zeit begann der 1. Weltkrieg nach dem Attentat von Sarajevo mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien also vor gut 100 Jahren.

Zeugnis über einen durchaus regen Schriftverkehr in dieser Zeit, gibt uns der Briefwechsel zwischen Kandinsky und Schönberg, nachzulesen im Kulturführer des Schloßmuseums Murnau oder nachzuhören auf einer CD der "Briefzeugnisse einer außergewöhnlichen Begegnung" mit Christian Brückner und Dietmar Schönherr, die bei dieser Aufnahme, Kandinsky und Schoenberg ihre Stimmen geliehen haben.

Mein Großvater, der Komponist Hans Winterberg, war ein Prager Jude deutscher und tschechischer Kultur. Bis zu seiner Emigration nach Bayern 1947 war er tschechoslowakischer Staatsbürger
. Er war ein "deutschsprachiger Jude" und kein "deutscher Jude in der Tschechoslowakei" Seine wichtigste Umgangssprache war zwar Deutsch aber er hatte sich in keiner Volkszählung nach 1929 zur deutschen Nationalität bekannt, sondern zur tschechischen.

In Rumburg in Nordböhmen hatte seine Familie eine Textilproduktion mit dem Namen "Fröhlich & Winterberg", eine Tuchfabrik, die 1938 von den Nationalsozialisten konfisziert und arisiert wurde. Im deutschen Sprachgebrauch wird oft unter Nordböhmen, der einst überwiegend deutsch besiedelte Teil des Sudetenlandes im Norden Tschechiens zwischen Karlsbad im Westen und dem Riesengebirge im Osten bezeichnet.

Hans Winterberg überlebte den Holocaust und kam nach seiner Internierung im Ghetto Theresienstadt und seiner Emigration aus der Tschechoslovakei in den Münchner Raum, wo seine Tochter also meine Mutter, meinen Vater kennenlernte. Mein Vater ließ sich sehr früh wieder scheiden und ich wuchs bei ihm auf, so dass ich keinen Kontakt zu meinem Großvater mütterlicherseits aufbauen konnte.


Deportationskarten
Deportations- Transportkarten von Hans Winterberg und seiner Mutter Olga Winterberg.
1. Transport nach Theresienstadt, 2. Transport von Olga nach Maly Trostinec am 4.8. 1942.
Hans überlebte "PREŽIL" in Theresienstadt "TEREZIN".


Bei meinen forwährenden Nachforschungen, stieß ich im internet, bei der Suche nach der Wortkombination "Olga Winterberg", auf eine genealogische Seite, eine website, die mit tausenden Stammbäumen gefüllt ist. Dort begann zu meiner Überraschung der Stammbaum bei meiner Urgroßmutter Olga. Die Winterbergsche Linie kann ich dort nun bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen.

Wer pflegte diesen Stammbaum ein? Es stellte sich bald heraus, dass Eric Randol Schoenberg, der Enkel von Arnold Schönberg, die Daten meiner Vorfahren einpflegte. Er ist der Enkel der österreichischen Komponisten Arnold Schönberg und Erich Zeisl. Schon im Alter von 8 Jahren begann er Stammbäume zu bauen und sich intensiv mit Genealogie also Ahnenforschung zu beschäftigen. Bekannt wurde er durch den Fall um Maria Altmann. Bei dem Rechtsstreit zwischen Altmann und der Republik Österreich setzte er die Rückgabe von fünf Gemälden von Gustav Klimt, die der Familie in der NS-Zeit entwendet wurden, durch.

Randy Schoenberg zeigt in seiner Arbeit bei geni.com auf, dass es viele Verbindungen gibt auch zwischen seinen und meinen Vorfahren. Im Juli 2014 war Randy Schoenberg in Wien zu Dreharbeiten über den Fall Maria Altmann, ein Film von Simon Curtis mit Helen Mirren & Ryan Reynolds. Das Drama hat den Titel "The Woman in Gold" und kam 2015 in die Kinos. Leider konnte Randy Schoenberg damals nicht nach Murnau kommen, da er zu beschäftigt war. Im Sommer 2018 aber besuchte mich Randy mit seiner Familie. Er war somit in meinem Heimatort Murnau, wie damals sein Großvater vor über 100 Jahren.

Randy Schoenberg & Family
v.l.n.r.  Nathan, Pamela, Peter, Randy, Joey &  Dora
2018 in Murnau


SPURENSUCHE - VOM TSCHECHEN ZUM DEUTSCHEN


Meine Spurensuche nach meinem Großvater Hans Winterberg (geb. 1901 - gest. 1991) und somit die Suche nach meinen Wurzeln mütterlicherseits, begann im Jahr 2011. Da ich ausschließlich bei meinem Vater aufwuchs, wusste ich bis dahin so gut wie nichts von meinem Großvater. All mein Wissen über ihn begann mit umfangreichen Recherchen im Internet. Daraus ergaben sich dann auch Einblicke in verschiedenen Publikationen bzw. Bücher mit Informationen über den Komponisten Hans Winterberg. Da er beim Bayerischen Rundfunk arbeitete, war er dort somit an prominenter Stelle und wurde auch publiziert.

Die ersten gedruckten Informationen erhielt ich mit dem Lexikon zur Deutschen Musikkultur, herausgegeben vom Sudetendeutschen Musikinstitut 2002. Dort steht u.a. zu lesen: "Ende 1944 noch kam er ins Konzentrationslager Theresienstadt und, aufgrund seines Bekenntnisses als Sudetendeutscher, blieb er hier nach dem 8. Mai 1945 von den Tschechen weiter interniert. 1947 wurde er ausgewiesen."

Fakt ist, dass Hans Winterberg am 26. Januar 1945 von Prag in das Ghetto Theresienstadt verbracht wurde - Quelle: Deportations-Karte in der Jüdischen Gemeinde von Prag. Hans Winterberg wurde aber nicht von den Tschechen weiter interniert, wie es vom Sudetendeutschen Musikinstitut in Regensburg, bis zu meiner nachweisbaren Richtigstellung, kolportiert wurde. Bei der Volkszählung 1930, auf die die Tschechen hierzu Bezug nahmen, gaben alle Mitglieder der Familie Winterberg als Nationalität / Umgangssprache tschechisch und als Religion jüdisch an.

Grab Rudolf Winterberg
Wiederentdeckung des Grabes von Rudolf Winterberg, dem Vater von Hans Winterberg.
Neuer Jüdischer Friedhof in Prag/Žižkov 2015


Hans Winterberg stellte vielmehr 1946 einen Antrag auf einen Reisepass. Dem Antrag beigefügt ist ein Brief von Dr. Sramek vom Ministerium für Schulerziehung und Aufklärung an das Aussenministerium. Dort heisst es, das Ministerium bestätige, dass der Komponist H. W. eine Auslandsreise unternehmen will, um nach seinen handschriftlichen Kompositionen zu suchen, die er vor dem Weggang ins Konzentrationslager Terezin in verschiedene europäische Staaten verschickt hatte. Im Auftrag des Ministers wird deshalb empfohlen, dem Genannten einen für alle europäischen Staaten gültigen Reisepass auszugeben (Quelle: Tschechisches Staatsarchiv Prag).

Hans Winterberg schreibt selbst z.B. am 21. März 1956 an die Künstlergilde Esslingen: "...Im Jahre 1947 nach Deutschland emigriert..." also nicht ausgewiesen oder vertrieben.

In Publikationen des Bayerischen Rundfunks wird ausschließlich über sein musikalisches Schaffen berichtet, wie z.B. im Komponisten-Portrait Hans Winterbergs von Alfons Ott, dem Bibliotheksdirektor der Münchner Stadtbibliothek, vom 31. März 1965 wo Winterberg ausgiebig gewürdigt wurde. Demgegenüber wiederholte Heinrich Simbriger, der in Regensburg das Musikarchiv der Künstlergilde - heute Sudetendeutsches Musikarchiv - aufbaute, in seinen Veröffentlichungen zu Hans Winterberg mehrmals: "Da stellte das Jahr 1938 alles bisher erreichte in Frage. Winterberg sah sich infolge seiner jüdischen Abstammung plötzlich aus dem deutschen kulturellen Leben ausgeschlossen und die folgenden bitteren Jahre brachten ihn bis an den Abgrund der physischen Vernichtung. Dennoch zögerte er, als man ihn 1945 aus dem Lager Theresienstadt befreite, keinen Augenblick, sich als Deutscher zu bekennen und damit das Schicksal der Vertreibung aus der alten Heimat auf sich zu nehmen. Er wurde nach Bayern ausgesiedelt..." Aus "Der Komponist Hans Winterberg, Sudetendeutscher Kulturalmanach V 1963/64". Woher Simbriger diese Behauptung, Winterberg sei ausgesiedelt worden nahm, ist mir nicht bekannt.

Diese Mär wurde auch über den Tod meines Großvaters hinaus aufrechterhalten und in einer Vereinbarung von 2002 sogar noch in einer perfiden Weise verstärkt in der, zeitlich und örtlich unbegrenzt, Winterberg als Sudetendeutscher Komponist zu bezeichnen ist und keinesfalls als Jude bezeichnet werden darf.

Auch der Bayerische Rundfunk war in den Jahren vor 2011 - mir gegenüber - verschlossen. Nachfragen zu vorhandenen Musiken im Archiv wurden negativ beschieden. Im Oktober 2011, nachdem ich die ersten Mitschnitte vom BR bekam, wurde meine neuerliche Anfrage so beantwortet: "Von den zahlreichen Einspielungen, die Sie uns genannt haben, befindet sich im Hörfunkarchiv des Bayerischen Rundfunks nur "Stationen 1974/75", die wir jedoch aus rechtlichen und vertraglichen Gründen nicht als Mitschnitt abgeben dürfen. Wir weisen Sie in diesem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass die Ihnen bereits zugesandten CDs nur für rein private Zwecke zum Anhören verwendet werden dürfen, d.h. sämtliche Rechte für eine Nutzung zu Zwecken der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der öffentlichen Zugänglichmachung ausdrücklich vorbehalten sind."

"Der Vertrag erscheint in seiner generellen Zielsetzung als sittenwidrig, da er versucht, das Werk des Komponisten Hans Winterberg der Öffentlichkeit zu entziehen, wobei zu bedenken ist, dass Künstler wie HW ihre Werke mit der Absicht schaffen, sie in die Öffentlichkeit zu tragen. Das Abkommen versucht auch, Grundtatsachen von HWs Leben - etwa seine jüdische Herkunft - zu verheimlichen und umzudeuten (durch das Diktat der Bezeichnung "sudetendeutscher Komponist", obwohl HW ein Prager war) und damit eine Art Zensur über alle potentiellen Veröffentlichungen zu HW auszuüben.
 
Der Wille des Erblassers (HW) bezüglich seines schriftlichen Nachlasses ist nicht bekannt und wird in dem Vertrag möglicherweise verzerrt. Jedenfalls fehlt in dem Vertrag jeder Hinweis auf seinen letzten Willen (sein Testament) und das Sudetendeutsche Musikinstitut (SMI) scheint sich voll auf wahrscheinlich nur mündliche und lückenhafte Auskünfte seines Adoptivsohns zu verlassen.
 
Indem sie den Vertrag in der vorliegenden Form schlossen, missachteten der Adoptivsohn und das SMI die Interessen und möglichen Ansprüche von Blutsnachkommen des Erblassers und damit möglicher Erben, nämlich seiner Tochter und seines Enkels. Auch dies ist möglicherweise sittenwidrig.
 
Der Vertrag entspricht weniger dem öffentlichen Auftrag des SMI, das Erbe deutschsprachiger Komponisten und Musiker aus dem böhmisch-mährischen Raum zu bewahren, pflegen und verbreiten, als eher den privaten Interessen und Obsessionen des Vertragspartners zu dienen.
 
Für den Vertragspartner des SMI geht es offensichtlich (abgesehen von dem finanziellen Gewinn) darum, zumindest während seiner Lebenszeit zu verhindern, dass HWs jüdische Herkunft bekannt wird. Seine privaten Beweggründe werden dabei nicht klar. Es ist allerdings nicht angebracht, dass eine öffentlich-rechtliche Einrichtung der Regierung der Oberpfalz (und allgemeiner: eine deutsche Behörde) dazu missbraucht wird, erstens die ethnische Herkunft eines Opfers des Nationalsozialismus und zweitens möglicherweise, jedenfalls in der Absicht, auch die Tatsache seiner Verfolgung durch das NS-Regime zu verheimlichen.
 
Dieser Zweck des Vertrages ist übrigens unsinnig, da die jüdische Herkunft HWs bekannt ist. Sie ist in mehreren musikwissenschaftlichen Publikationen erwähnt /hier kann man genaue Hinweise anführen/. Der Name HWs ist ausserdem (in der tschechisierten Form Hanuš Winterberg) in dem gedruckten und veröffentlichten Verzeichnis aller Personen aus Böhmen und Mähren, die von den Nationalsozialisten wegen ihrer jüdischen Herkunft inhaftiert (und grösstenteils ermordet) wurden (siehe Miroslav Kárný u. a. /Hrsgg./, Terezínská pamětní kniha. Židovské oběti nacistických deportací z Čech a Moravy 1941-1945, Band 2, Praha 1995, S. 1263). Dort ist auch (auf S. 847) die Ermordung von HWs Mutter Olga in Malý Trostinec verzeichnet. Die Absurdität des Ganzen wird ferner dadurch unterstrichen, dass auf die Verfolgung HWs durch die NS-Behörden sogar in einer Publikation des SMI verwiesen wird (was möglicherweise eine Verletzung des Vertrags mit dem Adoptivsohn darstellt...) - siehe Thomas Emmerig (Hrsg.), "Musik im Archiv". Thomas Stolle und die Konzertreihe des Musikarchivs der Künstlergilde e.V. in Regensburg 1987-1995. Eine Dokumentation, Regensburg 2014 ( = neue wege, Bd. 8), S. 104: "Mit Einmarsch der Deutschen /im März 1939/ wurde /Hans Winterberg/ jeder Tätigkeit beraubt. Er wurde nach Theresienstadt deportiert."
 
Abgesehen von den rechtlichen Bedenken erscheint es politisch und moralisch bedenklich, dass sich eine staatliche Stelle des demokratischen Deutschland wie das SMI dazu instrumentalisieren lässt, die Erinnerung an jüdische Opfer des Nationalsozialismus durch künstliche Hürden zu erschweren und zu behindern."
(Petr Brod Journalist, Prag).

Ich komme zu dem Ergebnis, dass mein Großvater Hans Winterberg natürlich kein Sudetendeutscher, sondern ein Prager Jude war. Es gab vor dem Übertritt nach Deutschland keinen Anlass sich als "Deutscher" zu bekennen, außer kulturell und sprachlich, vor allen Dingen nach seinem Entschluss nach Bayern zu übersiedeln, wofür sich der damalige Bundesverkehrsminister Dr. Seebohm bei der Überreichung des Sudetendeutschen Anerkennungspreises an Hans Winterberg ausdrücklich mit den Worten bedankte, "dass er (H.W.) sich trotz der schweren und fast unerträglichen Erlebnisse, die er lange im Lager Theresienstadt erlitt, zum deutschen Volke bekannt habe" (Stuttgarter Nachrichten Nr. 127 vom 1. Juni 1963).

An dieser Stelle sei auch auf einen Artikel in der Jüdischen Rundschau Maccabi vom 21. Juni 1963 verwiesen, mit dem Titel: Auszeichnung eines Juden am Sudetendeutschen Tag. Die jüdische Herkunft Winterbergs war also immer bekannt.

Warum sollte er sich in seiner damaligen Heimat - in Prag - zum deutschen Volk bekennen? Drei Völker, das tschechische, das deutsche und das jüdische, lebten jahrhundertelang miteinander in den böhmischen Ländern. Alle Vorfahren von Winterberg und ich kann diese dank Eric Randol Schoenbergs - Enkel des Komponisten Arnold Schönberg - genalogischer Arbeit, bis ins 16. Jahrhundert nachweisen, waren ausschließlich Juden, die seit dem 11. Jahrhundert entlang der ältesten Fernhandelsstraßen angesiedelt waren. Die Juden kamen offenbar als Fernkaufleute in die böhmischen Länder. Also war Hans Winterberg explizit kein deutscher(!) Jude. Welche Verbindung sollte Hans Winterberg zum deutschen Volk gehabt haben, außer der Sprache und der Kultur, die den Prager Juden allein schon durch diverse Edikte auferlegt waren. Diese Verbindung hatte er aber auch zur tschechischen Kultur, was aus seinem musikalischen Werk durchaus herauszuhören ist. Er bekannte sich wiederholt zum Universalismus als "eine Art Brücke zwischen der Westkultur (also auch der deutschen) und der des Ostens" (Sudetendeutsches Musiklexikon 2000).

Tonbaender
Tonbänder mit Aufnahmen der Musik von Hans Winterberg.
Seit dem Tod von Christoph Winterberg
(Adoptivsohn) im Jahre 2018 verschollen
aber vorher im Wesentlichen von Peter digitalisiert.

Hans Winterberg hatte Verbindungen zur Sudetendeutschen Landsmannschaft. 1963 hat er den Sudetendeutschen Anerkennungspreis erhalten. Unterzeichner dieses Preises waren der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, der damalige Bundesminister für Verkehr Dr. Ing. Hans Christoph Seebohm und Dr. Viktor Aschenbrenner. Hans Winterberg war zuletzt mit einer nichtjüdischen Frau aus Tetschen-Bodenbach verheiratet, die man durchaus zu den sog. Sudetendeutschen zählen könnte. "Sudetenland" und "Sudetendeutsche" sind dennoch politische Kampfbegriffe, die um 1900 auftauchen und auf den Begriff Sudetes Montes aus dem Mittelalter zurückgehen. Dieser wiederum bezieht sich auf die Grenzgebirge Böhmens. Prag und seine Einwohner gehören naturgemäß nicht dazu, aber sudetendeutsche Aktivisten haben immer versucht, sie einzubeziehen, um das Prager Deutschtum für die sudetendeutsche Sache einzunehmen bzw. um nach dem Krieg eine gewisse Liberalität zu demonstrieren, indem man die früher bekämpften Juden quasi eingeheimst hat. So kam auch Kafka zu der zweifelhaften Ehre, manchmal im Pantheon berühmter Sudetendeutscher aufzutauchen (Quelle: Petr Brod Journalist, Prag).

Bei meinem Grossvater kennen wir nur wenige Tatsachen, wie das amtliche Bekenntnis zum Tschechentum bis 1945, gleichzeitig kulturelle Identität als Deutscher, ausgedrückt durch seine öffentliche Tätigkeit, u. a. im Neuen Deutschen Theater.

Die genauen Umstände seiner Übersiedlung nach Bayern, gehen aus folgenden Stellungnahmen von ihm hervor und ergeben sich aus den Unterlagen, da er nachweislich noch im Frühjahr 1946 nicht von der Vertreibung bedroht war, ja sogar Aussicht auf einen tschechoslowakischen Reisepass hatte. Er hat ihn auch tatsächlich bekommen 
(Quelle: Tschechisches Staatsarchiv Prag) und mehrere Reisen nach Österreich und Bayern unternommen. Seine tschechischen Ausweisdokumente liegen allesamt im Tschechischen Staatsarchiv in Prag. Winterberg hatte bei der Vorbereitung zu seinem endgültigen Verbleib in Bayern alle nötigen Dokumente beieinander, wie seine Geburtsurkunde und eine Kennkarte, die aber verschollen ist. Aus dem internen Meldeblatt aus Diessen am Ammersee geht hervor, dass sich Hans Winterberg 1947/48 anscheinend mit dieser Kennkarte ausgewiesen hat.

In einem Schreiben vom Entschädigungsamt vom 1.7. 1954 wird Winterberg um Mitteilung gebeten, mit welchem Flüchtlingstransport die Ausreise aus der CSR erfolgt sei. Er antwortete auf dieses Schreiben, wie folgt: "Bis zum Dezember des Jahres 1947 bin ich in Prag geblieben. Ich hätte als Jude natürlich nicht unbedingt emigrieren müssen, doch machte mir immerhin die mangelnde Kenntnis der tschechischen Sprache Schwierigkeiten und um irgendwelchen langwierigen Formalitäten zu entgehen, schloss ich mich kurzentschlossen Ende 1947 einer Gruppe an, die mich über die Grenze brachte."

Am 12.9. 1955 wurde Winterberg nocheinmal um Mitteilung gebeten, mit welchem Flüchtlingstransport seine Ausreise aus der CSR erfolgte und wann und wo er seinen ersten Wohnsitz in Bayern nahm. Seine Antwort darauf: "Antwortlich Ihres Schreibens vom 12.d.M. teile ich Ihnen mit, dass ich mich einer Gruppe von Auswanderern Ende 1947 anschloss, die - wahrscheinlich auf mehr oder weniger illegale Weise - über die Grenze gebracht wurde. Auf deutschem Boden angekommen, trennte ich mich von dieser Gruppe und fuhr nur in Begleitung einer mir bekannten Familie nach München. Nach einigen Irrfahrten siedelte ich mich Anfang 1948 in Riederau am Ammersee an, wo ich bis heute geblieben bin." Quelle: Bayerisches Hauptstaatsarchiv und Staatsarchiv München.

In der Tschechoslowakei zu bleiben war verständlicherweise keine Option für meinen Großvater. Im Februar 1948 hatten die Kommunisten in der Tschechoslowakei die Macht übernommen. Zu diesem Zeitpunkt waren auch die meisten seiner Kollegen, Freunde und Familienmitglieder von den Nationalsozialisten ermordet oder vertrieben worden bzw. im Exil.

Völlig fehlerhaft aber amtlich ist ein internes Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren an die Regierung von Oberbayern in einer Abschrift vom Landratsamt Landsberg von 1950/52: Die Volkszählung war 1930 nicht 1929. Die Mitglieder der Familie Winterberg waren keine jüdischen Bürger deutscher Nationalität und sie bekannten sich beim Zensus 1930 auch nicht zum Deutschtum, wie in dem Schreiben behauptet wird. Hans Winterberg war bei seiner Ankunft in Bayern "staatenlos" und nicht "volksdeutsch", wie es aber in dem internen Meldeblatt aus Diessen am Ammersee fälschlicherweise steht. Winterberg war laut Flüchtlingsgesetz von 1947 möglicherweise als sog. "Evakuierter" einzustufen, zunächst einmal ohne Anspruch auf einen Lastenausgleich bzw. öffentliche Fürsorge. Seine Bestrebungen einen Flüchtlingsausweis zu erhalten sind nur zu verständlich, wenn man bedenkt dass er ansonsten mittellos war und nur ein Flüchtlingsausweis ihm die Möglichkeit einer finanziellen Zuwendung oder eines Bankdarlehens eröffnete (Lastenausgleichsgesetz).

Die deutsche Staatsangehörigkeit und einen deutschen Personlausweis erhielt Hans Winterberg schon im September 1952 durch seine Heirat mit Adelheit Reinhardt im Februar 1950 siehe Meldeblatt aus Diessen am Ammersee.

Aus mir vorliegenden Dokumenten geht hervor, dass sich mein Großvater bei Befragungen zu seiner Eingliederung immer wieder rechtfertigen musste, ob er auch "deutsch genug" sei, um im Nachhinein den Flüchtlingsstatus zu bekommen und einen neuen Flüchtlingsausweis zu erhalten und um damit möglicherweise die Zuwendungen des Lastenausgleichsgesetztes zu erhalten. Heinrich Simbriger spielte dabei eine maßgebliche Rolle, da er von Hans Winterberg als eine Art Zeuge zu dessen Einstellung zum Deutschtum angeführt wurde (Aus einem Schreiben von Winterberg an Simbriger im Mai 1955).
In dieser Zeit entstand wohl auch die Mär vom Sudetendeutschen Hans Winterberg. Gebracht hat die Zeugenaussage Simbrigers anscheinend nichts.

Letztendlich hat Hans Winterberg nach rund 8 Jahren Schriftverkehr die geforderten, berechtigten Entschädigungen erhalten. Das Bayer. Landesentschädigungsamt erließ am 8.6. 1956 einen entsprechenden Beschluss. Unter "Sachverhalt und Entscheidungsgründe" ist zu lesen: "Der Antragsteller ist als Flüchtling in Beweisnot, jedoch kann im Hinblick auf seine glaubhaften Angaben und die Bestimmungen des §1 Abs. 3 BEG als nachgewiesen unterstellt werden, dass er aus Gründen der Rasse aus seiner freiberuflichen Tätigkeit verdrängt und damit in seinem beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen nicht nur geringfügig benachteiligt worden ist. (§25 u. 26 BEG)"


In seinen späteren Jahren hat er sich zumindest damit abgefunden, als Sudetendeutscher präsentiert zu werden, was seine Lage in Bayern erleichtert hat. Ich weiss nicht, wie der tschechische Jude Hanuš Winterberg dort reüssieren würde und wie ihn sein potentielles sudetendeutsches Publikum aufgenommen hätte. Zudem waren in Bayern auch seine geschiedene Frau Maria Maschat und die gemeinsame Tochter Ruth - meine Mutter und beide katholisch - gestrandet...
top

BUCHDECKEL